Wie jedes Jahr.

Complimenti

Ernesto ist hier geboren. In Aramola. Genauer gesagt in Maurengo. Aber von diesem Ort redet hier niemand. Alle sind aus Aramola. Oder eben aus L’Aramu. Maurengo existiert zwar im Kataster, auf Wanderschildern und in echt. Aber wenn man von hier redet, redet man nicht von zwei Nachbarorten, die verschmolzen sind, man redet von Aramola. Ernesto wurde 1943 in Aramola geboren. Er ist unser Lehrer.
Nachdem er in den Ruhestand gegangen ist, hat er sein Elternhaus renoviert und lebt seither die acht Sommermonate hier. Er hat einen Garten, der von Antonio aus Palent, seinem Schulfreund als „una bomba“ bezeichnet wird. Da hat Antonio absolut Recht. Wir haben in diesem Jahr schon mindestens 20 Salatköpfe essen dürfen, die er im Herbst angebaut hatte. Er schenkt uns täglich Erdbeeren, Salat, Wein und viel wichtiger: sein Wissen. Er ist das Gedächtnis von Aramola. Er kennt jede Grundstücksgrenze, weiß, wer jede Natursteinmauer gemauert hat und wer wann wo und mit wem. Er weiß auch, wie hart das Leben hier war. Und zwar aus eigener Erfahrung und nicht aus Erzählungen. Er ist die Erzählung.
Irgendwann vor der Industrialisierung wurde es in den Städten zu teuer und die ärmeren Menschen sind in die Berge ausgewichen. So bis maximal 1.500 Meter Höhe war ein Leben möglich, mit Tierhaltung, selbstversorgendem Ackerbau und sehr langen, sehr harten Wintern, in denen nur zum Kochen Feuer gemacht wurde. Ansonsten haben die Tiere in den Ställen geheizt. Man ging auch zur Verrichtung der Notdurft in den Stall und auch zum Zusammensein. Stallparty, würde man heute sagen. Luciana, die das erlebt hat, sagt heute: „Wir hatten nichts, aber wir waren glücklich!“ Manche Philosophen brauchen ein halbes Leben, um zu dieser Weisheit zu gelangen. Nichts und glücklich. Das ist die Philosophie des Minimalismus. Wir haben heute für alles Wörter und Schubladen. Das einfache und harte Leben eines Ernesto ist nur eins ganz sicher: Leben.
An diesem Leben dürfen wir nun einen „Minimalismus“ teilhaben. Das ist ein maximales Geschenk. Keine Bohne käme, wenn wir die Mondphasen nicht beachten würden, jeder Baum fiele in die falsche Richtung, kein Grashalm würde der Sense zum Opfer fallen und kein Weinfass würde in passende Flaschen gefüllt, dürften wir nicht teilhaben an Ernestos Lebenserfahrung. An seiner Selbstverständlichkeit, uns zu helfen, gibt es keine Zweifel. Jedes „Grazie“ wird mit einem Abwinken quittiert. „Amicizia!“ Ja. Auch das. Und das tief verwurzelte Gefühl derer, die in dieser harten Umgebung überleben müssen, dass man sich braucht. Zum Überleben. Das ist archaisch. Und es ist schön.
Wie tief das Kompliment wirkt, das uns Ernesto vielleicht unbewusst macht, als wir ihn im neu bewirtschaftetetn Rifugio Detto Dalmastro zum Mittagessen einladen, merken wir erst ein paar Tage später. Der neue Hüttenwirt, der ein einfaches aber gutes Essen für uns bereitet, unterhält sich neugierig mit uns. Ernesto erzählt freimütig und sagt:
„Die leben so wie wir früher gelebt haben!“